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Die gescheiterte Flucht

Von Annemarie Müller (* 1904) aus Nürnberg

Gescheiterte Flucht vor den Russen aus Polen

Am 14. Februar 1945 rief mich Bärbel Lutz und wir standen lange im Garten vor der Haustür in Walny und hörten auf den pausenlosen Kanonendonner und wußten, daß damit nun auch der Angriff auf den Brückenkopf Warka begonnen hatte. Nach dem letzten Brief meines Mannes hatte er den Befehl nach Warka erhalten. Nun ließ das Dröhnen und Rollen von der Front nicht nach, aber auf unsere Anfragen bekamen wir nur immer die Antwort, es ist kein Grund zur Unruhe, es ist alles in Ordnung.

Am 16. Februar wurden alle Männer zum Volkssturm eingezogen, jetzt waren nur noch Frauen, Kinder und Mädchen auf den Dörfern. Am 17. wurde uns gesagt, Mütter und Kinder sollten sich bereit halten, um eventuell mit der Bahn abtransportiert zu werden. Um 2 Uhr nachts kam deutsche Polizei und sie sagte uns, wir sollten so schnell wie möglich fliehen, der Russe sei dicht hinter ihnen. Ich hatte meine drei Kinder schon vorher fertig angezogen, mit dem Kutscher in einer Stunde den Wagen fertig aufgeladen, und in der Morgendämmerung fuhren wir los.
Bis zum Abend waren wir 30 km gefahren, die Straßen waren voll mit Wagen, aus allen Nebenstraßen kamen mehr dazu. Am Vormittag des nächsten Tages wurde schon in den Treck hineingeschossen und wir führen durch Brände und rauchende Gehöfte. Da ging es mir zum ersten Mal auf: Es kann alles schief gehen, unser Vertrauen ist mißbraucht. Es war schon allgemeine Mutlosigkeit, es hieß, es geht ja doch nur in den Tod. Ich war aber noch nicht mutlos.
Im Morgendämmern des dritten Tages wurde der Treck aus einem Wald von der Seite ganz nah beschossen, ich sah das Mündungsfeuer. Ich riß die Kinder vom Wagen und verbarg mich mit ihnen unter einer Hauswand. Kaum waren wir runter von der Straße, kamen mit wahnsinnigem Gerassel die russischen Panzer gerast ohne Ende, fuhren rein in die Treckwagen, zermalmten alles, erschossen alles, was ihnen irgendwie verdächtig vorkam. Die Straße war sofort mit Trümmern, Blut und Leichen bedeckt, und das alles ging mit einer rasenden Schnelle.
Über uns kreisten deutsche Flieger und wir hofften, sie sehen hier das Chaos und werden uns Hilfe bringen. Wie gut, daß ich damals die nackte Wahrheit nicht ahnte, nicht wußte, daß die, von denen wir Hilfe erhofften, gar keinen Gedanken an uns verschwendeten und uns alle opferten ohne eine Bewegung.

Der Befehl kam von Mund zu Mund durch: Alles muß zurück, wo es hergekommen ist, keiner darf mehr vorwärts fahren. Die Russen sprangen von ihren Panzern auf unsere Wagen, nahmen uns Uhren und Schmuck ab, andere fragten uns aus. Ich sah manche von unseren Leuten, die winkten den Russen zu, warfen von ihren Wagen ihnen alles Mögliche in ihre Panzer und taten, als wären sie glücklich über ihre Anwesenheit. Mir war dieser Umschwung von den Unsrigen unmöglich, ich war wie versteinert. Ein russischer Offizier, der auf meinen Wagen sprang, sah mich scharf an und sagte ”Du bist Volldeutsche”. Ich nickte, und er sprang wieder ab.

Wir fuhren den ganzen Tag auf Seitenstraßen und etwas abseits der Straße auf einen Bauernhof zum Übernachten. Hier lag schon alles voll mit Flüchtlingswagen, und im Haus - eine Küche mit zwei Stuben - lagen die Menschen. Wir legten uns dazu in die Küche und schliefen. Kaum waren wir eingeschlafen, kamen Russen rein, sehr viele. Wir mußten sofort aufstehen und rausgehen. Ich kauerte mich mit den Kindern in eine Ecke auf dem Hof draußen. Die Russen untersuchten unsere Wagen mit Taschenlampen. Dann nahmen sie Bertl Mergentaler, die auch bei uns saß, weg in die Scheune; dann kamen sie zu mir, einer hockte sich neben mich und sprach auf mich ein, soviel verstand ich, daß ich mit ihm in die Scheune sollte. Ich weinte und zeigte ihm meine drei verängstigten Kinder. Darauf winkte er den anderen und sie gingen weg.

Ich hatte genug tote Frauen hinter den Häusern liegen gesehen und glaubte zu wissen, was mit mir geschieht. Um meine Kinder würde sich niemand mehr kümmern. Ich wollte sterben und suchte schnell mein Messer, das scharf war, und erzählte den Kindern, wir wollten sterben und in den Himmel. Sie nickten ernsthaft mit ihren verängstigten Gesichtern.
Aber wir kamen nicht mehr dazu. Der ganze Haufen Russen kam zurück und bedeutete mir, ich sollte mitkommen. Sie führten uns ins Haus zurück. Ein junger Offizier sprach etwas deutsch, sagte mir, ich solle keine Angst haben, einer Mutter mit Kindern täten sie nichts. An diesem Abend fühlte ich sehr, daß es eine schützende Hand über mich gibt.

Am nächsten Morgen fuhr ich Bertl zusammen auf einem Wagen. Schon am Abend vorher sahen wir überall im Straßengraben die dunklen Gestalten im Schnee, die Toten, Erschossenen. Jetzt am Tage sah ich sie mit wächsernen, erstarrten Gesichtern. Haare und Kleider waren bereift. Fast alle mit Genickschuß, die Männer mit dem Ausschuß durch die Nase. Bei den Frauen sah man selten den Einschuß, im Gesicht jedenfalls nicht. Die Frauen aber waren immer kaum bekleidet. Ich habe das eine Bild immer noch vor Augen: Drei junge Mädels, nur Schlüpfer hatten sie an und Hüte auf dem Kopf, saßen aufgebahrt am Straßenrand mit furchtbaren Gesichtsausdrücken. Auch auf der Straße lagen die Leichen. Es war fürchterlich, über die schon zermanschten Haufen hinwegfahren zu müssen.

Jetzt fingen die Polen an zu räubern. Überall rotteten sie sich zusammen und plünderten die Treckwagen. Ich sah viele Frauen, die barfuß oder in Strümpfen weiterlaufen mußten. Stiefel zogen sie alle runter. Ich war froh, daß ich nur Skischuhe an hatte.
Oft haben wir auch erlebt, daß die Russen die Polen nicht plündern ließen. Auch an den Leichen an der Straße sah man den Unterschied zwischen Russen und Polen: der Russe erschoß, der Pole ermordete, er stach mit Messern, stach die Augen aus.

An diesem Tage verloren wir auch unseren Wagen, nahmen unsere paar Sachen, die wir noch hatten, auf den Rücken und gingen zu Fuß. Am Abend des vierten Tages blieben wir in einem ganz abgelegenen kleinen Walddorf über Nacht bei einem alten Polen, der uns sehr gut aufnahm. Er gab uns seine ganze Milch und kam abends mit seiner Bibel und bewies uns aus Stellen (Offenbarung), daß alles so gekommen ist, wie er es herausgelesen hat und wie es noch weiter käme.

Am fünften Tag ging es immer zu Fuß bei schneidender Kälte. Gegen Abend kamen wir vor Kutno. Je näher wir rankamen, desto toller ging das Gerücht, alle Deutsche kommen ins Getto und werden runtergeschossen. Um 22 Uhr waren wir da. Wir kamen unbehelligt vorbei. Ein polnischer Bahner führte uns auf Seitenwegen durch Kutno, das war unser Glück. Wer in Kutno gefaßt wurde, dem ging es sehr schlecht. Ich habe später noch mit vielen Menschen gesprochen, die dort in das Kutnoer Lager geraten waren. Die jungen Mädels wurden tags und besonders nachts herausgeholt von den Russen und mußten da oft bis zu zehn Russen über sich ergehen lassen.

So kamen wir bis Mitternacht nach Woichewice; dort führten uns die Polen, die wir kannten, in ein Haus, wo wir tot müde hinfielen und schliefen. Am nächsten Morgen kam das letzte Stück Weg bis Walny und suchte dort meine Nachbarin. Bis August 1947 war ich dann in polnischer Gefangenschaft.


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